Das Böhmische Dorf - Die ausgelegte Klolektüre vor der Toilette - © B. Klompmaker</span

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Beate Klompmaker

Das Böhmische Dorf

eine Klo-Lektüre

Männer lesen auf dem Klo lieber als Frauen. Jeder zweite Mann vertreibt sich die Zeit auf dem Lokus mit einer Lektüre. Bei den Frauen ist es nur jede Vierte. Das ergab eine Studie der Gesellschaft für Konsumforschung im Auftrag eines Hygienekonzerns dieses Jahr. Im Schnitt liest demnach jeder Dritte auf der Toilette. Man(n) greift bevorzugt zu Magazinen, gefolgt von Zeitungen. Werbe- und Bestellkataloge rangieren noch vor Büchern. Auf der Citytoilette am Richardplatz gibt es nun ein besonderes Leseangebot. Auf dem Locus erfährt man, wo man sich befindet:

Die City-Toilette steht auf dem Richardplatz, dem Dorfkern des alten Rixdorfs in Neukölln. Die Toilette liegt an der Richardstraße, einer früheren Hauptverbindungsstraße nach Köpenick im Teil Deutsch-Rixdorf.

>Der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I, der nie einen Krieg führte, sondern eine asketische Lebensweise in seine Politik umsetzte, baute vor 275 Jahren 18 Höfe an der Richardstraße für Glaubensflüchtlinge, die aus Böhmen kamen. Das Böhmisch-Rixdorf, ca. 50 Meter entfernt, gegenüber dem heutigen Comenius-Garten liegend, war geboren. Den Glaubensflüchtlingen aus Böhmen gab der Soldatenkönig kostenlosen Wohnraum, Arbeit, Glaubensfreiheit und einige weitere Privilegien.

Auf dem Richardplatz befand sich früher eine Wasserstelle, ein Dorfteich. Neben der alten Schmiede (seit 1624 bis heute in Benutzung) fanden Tiere Wasser und Kinder badeten. Rixdorf wurde von vielen Bränden heimgesucht, das Wasser als Löschwasser genutzt. Theodor Fontane berichtete: "... und ein paar Kinder, die gerade aus dem Tümpelbade kamen, liefen nackt über den Weg und wirbelten Staub auf. Der Tümpel blieb ja für ein zweites Bad." Nachdem ein Kind darin ertrank, wurde der Weiher zugeschüttet, heute ist auf ihm der Spielplatz zu finden.

"Toilettenanlagen sind öffentliche Stadtmöbel, das heißt, sie müssen sich in Qualität und Design an den Bedürfnissen der Nutzer und dem umgebenden Stadtbild ausrichten", sagt Daniel Wall, der Besitzer des sogenannten City-Klos. Das hässliche Stadt-WC hat den zentralen Ort auf dem Richardplatz erobert. Wer will, bezahlt und verrichtet seine Notdurft. Einen Platz aufsuchend und ihn für eine begrenzte Zeit gegen Geld haltend. Man muss mal. Man muss einen Ort für sich finden. Toiletten werden auch Abort genannt. Ein abOrt, ein abgelegener Ort ist die Toilette auf dem Platz nicht. Ein Mann, der mit vielen Einkauftüten beladen direkt neben der City-Toilette an einen Stromkasten pinkelt, ruft mir entgegen: "Junge Frau, es tut mir leid, ich konnte nicht mehr an mir halten, Entschuldigung."

Gegenüber der City-Toilette steht seit dem Jahr 1910 eine Trinkhalle, entworfen von Reinhold Kiehl, auch "Pilz" genannt. 1859 entwickelte der Berliner Architekt Martin Gropius die Grundform dieser Trinkhalle, die bald zum Vorbild für Trinkhallen (sogar in Paris und anderswo) wurde. Seit 32 Jahren führt Familie Fabian in zweiter Generation darin eine Imbissbude. Es ist der einzige Ort auf dem Platz, an dem sich die Kulturen wirklich begegnen und nicht nur nebeneinander her leben. Zitat Fabian: "Aische, du darfst keine Pommes essen. Es ist noch Ramadan!"

Neukölln ist ein Ort, an dem Menschen nie lange bleiben wollten und wollen, das belegt auch die neue Topos-Sozialstudie. In ihr steht, dass eine klassische Gentrifizierung vor Ort nicht stattfindet, es gäbe in Neukölln eher eine sehr spezielle Situation, nämlich dass die Armen, die hinzuziehen, die noch Ärmeren verdrängen. Da kann Friedrich Wilhelm I mit seiner Wohnungsbeschaffungsmaßnahme ein Vorbild sein. Er erbaute in kürzester Zeit die Höfe, in denen seit 275 Jahren immer noch Böhmen wohnen. Seither üben sie ihre Religion frei aus und können ihre Traditionen und Bräuche leben. Der heutige soziale Wohnungsbau muss weiter ausgebaut werden, damit Menschen bleiben können - und dies jetzt. Damit es nicht zu einer ähnlich schlimmen Schieflage kommt wie an den Schulen vor Ort, resultierend aus einer Jahrzehnte langen verfehlten Bildungspolitik, die bis heute anhält. In diesem Sinne ist Friedrich Wilhelm I mit seinem "In-Time-Management" sehr aktuell und ein Vorbild.

"Das Böhmische Dorf" von Beate Klompmaker, 2012, Karte mit Informationen, 60 x 40 cm, liegt als Klo-Lektüre während des Kulturvestivals 48 Stunden Neukölln an der City-Toilette aus.

von Eleonore Prochaska

www.klompmaker.de

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letzte Aktualisierung: 08.06.2012

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